Ich habe unlängst versucht, auf die klassische Elternfrage »Latein oder Französisch« eine salomonische und hinreichend objektive Antwort zu geben. Klar ist aber auch: Ich kann noch ganz anders – denn natürlich gibt es sehr gute Gründe, warum man auf jeden Fall sein Kreuz bei Latein setzen sollte! 😉
Latein, so heißt es oft genug irgendwo zwischen höhnisch und bemitleidend, sei ja eine tote Sprache. Tatsache ist jedoch: Obwohl sich auch in meinem Unterricht regelmäßig Schüler bemühen, diese Sprache zu ermorden, mindestens aber mit Übersetzungen in den panischen Suizid zu treiben, ist es bislang niemandem gelungen. Latein bildet den Menschen und zudem eine hinreichend gute Grundlage, um sich in der romanischen Welt auf grundlegendem Niveau zu orientieren: Portugiesisch, Spanisch und Italienisch stellen keinen eingefleischten Latinisten vor ernsthafte Verständnisprobleme, Französisch hat vielleicht ein bisschen zu viel Keltisch abbekommen, Rumänisch ist unter einem Superstrat slawischer Lautveränderungen verborgen – aber ihre Herkunft kann keine dieser Sprachen verleugnen. Zu guter Letzt gibt es außerdem den Heiligen Stuhl, der die lateinische Welt regelmäßig mit aktuellem Vokabular anreichert; von Eierlikör (»merum ovo infusum«) bis Overheadprojektor (»proiector supracapitulus«) lässt sich unser Alltag in der Sprache der Römer ausdrücken. Die Nuntii Latini des finnischen Rundfunks YLE beweisen das allwöchentlich.
Einräumen müssen wir Latinisten freilich, dass in unserem Unterricht kaum je aktiv Latein gesprochen wird – doch ist das nicht zwingend ein Nachteil. Mindestens während der Grammatik- oder Lehrbuchphase besteht unser täglich Brot darin, fremde Kultur und fremde Sprache in unseren deutschen Alltag zu transportieren. »Fremdverstehen« nennt man diese kulturelle Leistung; pointiert könnte man sagen: Wer römische Kleidung, Küche und Karrieren kennen gelernt hat, den können Gebräuche und Gerichte aus Ghana oder Syrien auch nicht mehr überraschen. Mehr noch: Wir übertragen all dies in, so heißt der Standardauftrag, »angemessenes Deutsch«. Wer also meint, eine Extrarunde Deutsch mit Reflexion über die Sinnhaftigkeit eines Konjunktiv I täte der Kommunikation seines Kindes gut: Bei uns ist das normal. Ebenso normal ist übrigens, Kindern auch längere Übersetzungsphasen in Selbstständigkeit zuzumuten und so die Konzentrationsfähigkeit zu schulen; in Zeiten, da selbst Dokumentarfilme alle paar Sekunden eine neue Kamera-Einstellung à la MTV aufweisen, beinahe ein Alleinstellungsmerkmal, mindestens aber eine Eigenschaft mit Seltenheitswert.
Intellektueller wird es mit Beginn der eigentlichen Lektürephase. Je nach Schulprogramm wird dann ausdiskutiert, inwiefern man mit Redekunst Menschen lenken, ja, manipulieren kann. Klar, dass dann auch die Frage aufkommt, wie manipulierbar wir selbst sind (z.B. Cicero, Orationes in Catilinam). Oder man nähert sich einer völlig anderen Welt von Liebe und Gefühl, von Emotionen und Kompensation (z.B. Catull). Oder man nimmt Tipps und Hinweise zum Verführen des Wunschpartners zum Anlass, über das Leben, Ziele, Träume, Liebe, Oberflächlichkeit und Geschlechterrollen im Wandel der Zeit zu philosophieren (z.B. Ovid, Ars Amatoria). Oder man erarbeitet zeitlose Themen wie Freundschaft (z.B. Seneca, De Amicitia) oder den Widerstreit zwischen Schicksal und freiem Willen (z.B. Seneca, Tusculanae Disputationes). Oder man liest Juvenals »Saturae«, Caesars »Commentarii de Bello Gallico«, Petrons »Cena Trimalchionis«. Einfach weil man es kann.
Denn klar ist auch: Latein schweißt zusammen. Wie bei allen Minderheiten – seien es nun Linkshänder, Rothaarige oder bienenzüchtende Motorradlesben – ergibt sich unendlicher Gesprächsstoff über ähnliche und andere Erfahrungen im Unterricht. Über Jahre hinweg i‑Deklination und Supinum II gepaukt zu haben, deren Sinnhaftigkeit sich manchem spät und vielen nie erschließt, ist ein Stück gemeinsamen Lebensweges – auch über Jahre und Grenzen hinweg. Die Befriedigung, altkluge Einsprengsel wie »carpe diem« zu verstehen, ohne sie selbst nutzen zu müssen, und jedesmal süffisant grinsen zu dürfen, wenn jemand wieder »alea iacta est« falsch verwendet, gibt es übrigens gratis als Dreingabe. Ebenso wie das Latinum, welches noch immer für über 100 Fächer eine Studienvoraussetzung darstellt. – Ein Gesamtpaket fürs Leben, für das ich jederzeit wieder alle Crêpes und den Hinweis, man könne dann mit frankophonen Muttersprachlern parlieren, stehen ließe.