Die ewige Frage: Latein oder Französisch? Versuch einer salomonischen Antwort.

Zu den Dau­er­bren­nern im el­ter­li­chen Be­ra­tungs­ge­spräch ge­hört die Fra­ge, ob die ei­ge­nen Spröss­lin­ge bei La­tein oder bei Fran­zö­sisch bes­ser auf­ge­ho­ben sei­en. Be­glei­tet wird die­se Aus­wahl von ei­ner un­ge­heu­ren Zahl an Vor­ur­tei­len und Bin­sen­weis­hei­ten. Bei­spiel ge­fäl­lig? An der Schil­ler­schu­le in Han­no­ver kur­siert die An­sicht, Kin­der mit Le­se-Recht­schreib-Schwä­che müss­ten La­tein wäh­len. Bei die­ser An­sicht han­delt es sich um tra­dier­tes „Wis­sen“, das nicht in Fra­ge ge­stellt wird. Tat­säch­lich aber lässt sich die Fra­ge, was die bes­se­re Wahl für ein Kind ist, so pau­schal nicht beantworten.

Für ei­nen Groß­teil der Kin­der gibt es näm­lich kei­ne ob­jek­tiv bes­se­re Wahl. Über­spitzt ge­sagt: Wenn Ihr Fi­li­us grund­sätz­lich nur mit Mü­he und min­des­tens ei­nem zu­ge­drück­ten Au­ge die Ver­set­zun­gen schafft, ist es un­wahr­schein­lich, dass die Be­ton-Fünf in La­tein ein „Sehr gut“ wä­re, wenn man denn bloß da­mals Fran­zö­sisch ge­wählt hät­te. Ist das Töch­ter­lein aber nicht nur in Deutsch, Re­li­gi­on, Kunst und Bio­lo­gie, son­dern auch in Fran­zö­sisch auf den Ein­ser­be­reich abon­niert, ste­hen die Chan­cen gut, dass es ihr mit La­tein eben­so er­gan­gen wä­re. Kurz­um: Wenn Ihr Kind ei­ni­ger­ma­ßen nor­mal und un­auf­fäl­lig ist, in­for­mie­ren Sie es, las­sen Sie es mög­lichst frei ent­schei­den und un­ter­stüt­zen Sie es dann in sei­ner Wahl. Schau­en Sie sich die Nei­gun­gen ih­res Nach­wuch­ses an, sei­ne Stär­ken und Schwä­chen; be­ein­flus­sen Sie es nicht mit sub­jek­ti­ven Aus­sa­gen wie „in Fran­zö­sisch kann ich dir we­nigs­tens am An­fang noch mit den Haus­auf­ga­ben hel­fen“ oder „Fran­zö­sisch hab ich im­mer ge­hasst“. Ihr Kind ist nicht Sie. Be­stär­ken Sie es um­ge­kehrt, nach ei­ge­nen Vor­lie­ben zu wäh­len – un­ab­hän­gig da­von, wie der bes­te Freund oder die bes­te Freun­din das Wahl­kreuz ge­setzt hat.

Nun gibt es aber den­noch ei­ni­ge Un­ter­schie­de zwi­schen La­tein und Fran­zö­sisch: Letz­te­res ist als mo­der­ne Fremd­spra­che – ganz wie Eng­lisch – auf Kom­mu­ni­ka­ti­on an­ge­legt. La­tein wird prak­tisch nicht ak­tiv ge­spro­chen, bil­det aber mit ei­nem re­la­tiv stär­ke­ren Fo­kus auf Gram­ma­tik das ge­dank­li­che Grund­ge­rüst für vie­le mo­der­ne Fremd­spra­chen (und nicht zu­letzt für Sys­te­me wie die Kom­ma­set­zung des Deut­schen). Auch hier kann man über­spitzt sa­gen: Wenn sich Ihr Kind pro­blem­los auch mal 15–20 Mi­nu­ten al­lein be­schäf­ti­gen kann, Freu­de am selbst­stän­di­gen Kno­beln und ein In­ter­es­se an gu­tem Deutsch hat, könn­ten Sie ei­nen an­ge­hen­den La­tei­ner groß­zie­hen. Ist Ihr Kind hin­ge­gen ein gro­ßer Kom­mu­ni­ka­tor, spricht und singt und teilt sich selbst dann oh­ne fal­sche Scham mit, wenn viel­leicht fremd­sprach­li­che Kennt­nis­se noch nicht voll­um­fäng­lich vor­han­den sind, könn­te es zu Fran­zö­sisch tendieren.

Und was ist nun mit den LRS-Kin­dern aus dem Ein­stieg? Für die­se Kin­der bie­ten so­wohl La­tein als auch Fran­zö­sisch Hür­den – nur je­weils an­de­re. In La­tein mit sei­nen viel­fäl­ti­gen For­men und Suf­fi­xen lie­gen zwi­schen „di­xerunt“, „di­xer­int“ und „di­xerant“ min­des­tens so vie­le Wel­ten wie zwi­schen „eram“ und „er­ram“. Je­man­den vor­sätz­lich in die­ses Mi­nen­feld zu ja­gen, der Pro­ble­me mit hun­dert­pro­zen­tig ex­ak­tem Le­sen hat, grenzt an Bös­ar­tig­keit. Um­ge­kehrt darf man als be­kannt vor­aus­set­zen, dass die fran­zö­si­sche Lau­tung und die da­zu­ge­hö­ri­ge Recht­schrei­bung nicht im­mer von gro­ßer Ein­deu­tig­keit ge­kenn­zeich­net sind; wer kä­me oh­ne Vor­wis­sen schon auf die Idee, dass „oh“, „au“ und „eaux“ al­le gleich klin­gen? Für Kin­der mit Le­se-Recht­schreib-Schwä­che ei­ne gro­ße Hür­de. Um­ge­kehrt aber bie­tet Fran­zö­sisch eher als La­tein die Chan­ce, schlech­te schrift­li­che Er­geb­nis­se durch münd­li­che Be­tei­li­gung – Kom­mu­ni­ka­ti­on! – auszugleichen.