Warum arbeiten Schulen nicht digital(er)?

Jetzt fällt der Un­ter­richt aus. Jetzt ist die Zeit für so­zia­le Selbst­iso­la­ti­on. Jetzt ist Co­ro­na an­ge­sagt. Und hun­dert­tau­sen­de deut­sche El­tern fra­gen sich – nicht ganz un­be­rech­tigt –, war­um Schu­len, Lehr­kräf­te, Kin­der nicht längst mit­hil­fe neu­er Pro­gram­me und Pro­zes­se fle­xi­bel und di­gi­tal auf solch ein Sze­na­rio re­agie­ren kön­nen. Die pau­scha­le, bis­wei­len wohl iro­nisch ge­mein­te Ant­wort, heut­zu­ta­ge müss­ten »Schü­ler ih­ren Leh­rern so et­was bei­brin­gen«, greift zu kurz, ob­wohl der mensch­li­che Fak­tor nicht zu un­ter­schät­zen ist – ne­ben viel­fäl­ti­gen recht­li­chen und tech­ni­schen Problemen.

Kennt­nis, Fä­hig­keit und Erlaubnis
Sei­tens der Schü­ler­schaft sind Kennt­nis­se oft nicht so aus­ge­prägt, wie Po­li­ti­ker auf Stipp­vi­si­te im di­gi­ta­len Neu­land glau­ben wol­len. Ja: Kli­cken und Wi­schen, das klappt – und im­po­niert je­nen, die sich ih­re E‑Mails aus­dru­cken las­sen. Schon bei der Fra­ge, wie man ei­ne Da­tei um­be­nennt oder ei­ne Mail mit An­hang ver­sen­det, wer­den die Kennt­nis­se der Kin­der spär­li­cher. Re­cher­che­auf­ga­ben, die über Wi­ki­pe­dia hin­aus­ge­hen: ganz schwie­rig! Und so wird E‑Learning, was auch das Her­un­ter- und Hoch­la­den von Da­tei­en be­deu­tet, flugs zu ei­ner grö­ße­ren Her­aus­for­de­rung als ge­dacht. Die­sen Be­fund stützt auch die ICILS-Stu­die aus dem Jahr 2018; ge­ra­de 1,9% der deut­schen Acht­kläss­ler er­reich­ten die höchs­te Kom­pe­tenz­stu­fe – wo­hin­ge­gen 33,2% ru­di­men­tä­re Kennt­nis­se be­schei­nigt bekamen.

Er­schwe­rend kommt hin­zu, dass man in die Kal­ku­la­ti­on El­tern ein­be­zie­hen muss, die ih­ren min­der­jäh­ri­gen Söh­nen und Töch­tern die Nut­zung des In­ter­nets un­ter­sa­gen. Ja, das kommt vor. Nein, ein­sich­tig wer­den sol­che Er­zie­hungs­be­rech­tig­ten auch nach ei­nem Leh­rer­ge­spräch selten.

Zu­mal na­tür­lich auch die spit­zen Zun­gen recht ha­ben, die manch ei­nem Schul­meis­ter un­ter­stel­len, sich in der vir­tu­el­len Welt nur un­zu­rei­chend aus­zu­ken­nen. Es sind nicht zwin­gend die äl­te­ren Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen; ab et­wa 40 scheint bei man­chen Men­schen ei­ne Art Sät­ti­gung im Hin­blick auf tech­ni­schen Fort­schritt ein­zu­set­zen – ein Ge­fühl, das sich be­schrei­ben lässt mit: »Bis jetzt ging es doch auch oh­ne.« Wo­zu On­line­ban­king? Wo­zu Mu­sik­strea­ming? Und ana­log: Wo­zu di­gi­ta­le Schul­bü­cher, on­line ge­führ­te Klas­sen­bü­cher, e‑Learning? Ins­be­son­de­re bei Leh­rern steht auch die Ab­wä­gung an, dass man mit viel Auf­wand Un­ter­richts­ma­te­ria­li­en er­stellt hat, die zwar nicht di­gi­tal, aber trotz­dem nicht falsch sind. Am la­tei­ni­schen Da­tiv oder den se­mi­per­me­ablen Mem­bra­nen hat sich we­nig verändert.

Pro­ble­ma­ti­scher als Aus­stat­tung: Datenschutzauflagen
An just je­nem Punkt der Schul- und Klas­sen­bü­cher und des e‑Learnings steht ge­ra­de uns Deut­schen vor al­lem zwei­er­lei im Weg: Ein Man­gel an Tech­nik und ein ge­rüt­telt Maß an Regulierung.

Wäh­rend un­se­rer Eras­mus­rei­se in den Os­ten Finn­lands in der 11. Ka­len­der­wo­che 2020 konn­ten wir am dor­ti­gen Mik­ke­lin Lu­kio in Ris­tii­na bei­spiels­wei­se Schü­ler­grup­pen be­ob­ach­ten, die kol­la­bo­ra­tiv ei­nen Brief schrie­ben: Je­de und je­der mit ei­nem Lap­top auf dem Schoß, auf das ge­mein­sa­me Do­ku­ment bei Goog­le Docs zu­grei­fend. In Deutsch­land: un­mög­lich. Für Goog­le Docs bräuch­te man näm­lich ers­tens ei­nen Goog­le-Ac­count, wo­zu wir nie­man­den zwin­gen dür­fen, und zwei­tens spei­chert die ame­ri­ka­ni­sche Fir­ma Goog­le ih­re Da­ten auf ame­ri­ka­ni­schen Ser­vern. Das ist uns nicht er­laubt! Das­sel­be Pro­blem er­gibt sich ident bei Mi­cro­softs Of­fice 365 mit One­Dri­ve und bei al­len Ap­ple-Pro­duk­ten so­wie­so: nicht-deut­sche Ser­ver sind für deut­sche Schü­ler­da­ten streng ge­nom­men tabu.

Selbst in Ser­bi­en ist es durch­aus üb­lich. Lern­grup­pen per Whats­app zu in­for­mie­ren, zu ko­or­di­nie­ren: Das ist sim­pel, weil oh­ne­hin prak­tisch al­le die­se App auf dem Smart­phone ha­ben. In Deutsch­land ist auch das strikt un­ter­sagt: Al­les, was dienst­lich ist – al­so Klar­na­men, Un­ter­richts­in­hal­te, Prü­fungs­stoff, No­ten und Ver­gleich­ba­res – darf nicht über Whats­app ver­sen­det wer­den, weil Whats­app – Sie ah­nen es be­reits – sei­ne Da­ten auf ame­ri­ka­ni­schen Ser­vern spei­chert. Die App der Wahl für nie­der­säch­si­sche Lehr­kräf­te heißt »Si­gnal«; sie ist we­ni­ger ver­brei­tet, muss oft ex­tra für schu­li­sche Zu­sam­men­hän­ge her­un­ter­ge­la­den wer­den, wird dann ent­spre­chend sel­ten kon­trol­liert… und hat­te vor kur­zer Zeit zu­dem mas­si­ve Da­ten­schutz­pro­ble­me. Aber die Ser­ver ste­hen ja in der Bun­des­re­pu­blik! Aus dem­sel­ben Grund ste­hen mei­ne No­ten als Tin­te auf Pa­pier in mei­nem Ka­len­der – und nicht in ei­ner die­ser be­que­men Apps, die al­les feh­ler­frei selbst aus­rech­nen. Wer weiß schon, wo de­ren Ser­ver stehen?

El­tern in den be­nach­bar­ten Nie­der­lan­den freu­en sich über die dort üb­li­chen elek­tro­ni­schen Klas­sen­bü­cher: So kön­nen die Er­zie­hungs­be­rech­tig­ten ein­se­hen, ob die Spröss­lin­ge an­we­send wa­ren oder was die Haus­auf­ga­ben sind. »Ma­ma, wir ha­ben heu­te gar nichts auf!«, ge­hört zwi­schen Maas­tricht und Alk­maar der Ver­gan­gen­heit an. Bei uns un­denk­bar; aus Da­ten­schutz­grün­den darf selbst im pa­pier­nen Klas­sen­buch nicht mehr ver­merkt wer­den »Häns­chen Klein nach der 3. Stun­de krank ent­las­sen«, weil es nie­man­den et­was an­zu­ge­hen hat, dass Häns­chen krank ist.

Man ver­ste­he mich bit­te nicht falsch: Da­ten­schutz – auch im Sin­ne der Ho­heit über die ei­ge­nen Da­ten – ist ein The­ma, das wir in ei­ner ste­tig ver­netz­te­ren Welt kaum ernst ge­nug neh­men kön­nen. Aber die Grund­la­ge, deut­sche Schul­da­ten aus­schließ­lich auf deut­schen Ser­vern zu be­las­sen, ist arg rea­li­täts­fremd – zu­mal beim On­line­zu­griff kei­ner­lei Ge­währ be­stehen kann, dass die Da­ten nicht doch übers Aus­land ge­lenkt werden.

Noch mehr Schwie­rig­kei­ten: Ver­la­ge als Rechteinhaber
Zu schlech­ter Letzt sor­gen die Schul­buch­ver­la­ge da­für, dass ih­re di­gi­ta­len Pro­duk­te auf Mes­sen be­staunt, aber von Prak­ti­kern nicht er­wor­ben wer­den. Ein Buch, das ich kau­fe, ge­hört mir – mei­ne Un­ter­strei­chun­gen, An­mer­kun­gen, Kle­be­zet­tel und so­gar die vom Sitz­nach­barn hin­ein­ge­krit­zel­ten Ka­ri­ka­tu­ren ge­hö­ren mir al­lein. Bei e‑Books ist die Rechts­la­ge je­doch so, dass ich nicht das Buch er­wer­be, son­dern nur das Recht, hin­ein­zu­schau­en und es zu nut­zen. Dem­zu­fol­ge kann ich ein ge­druck­tes Buch wei­ter­ver­kau­fen – das ähn­lich teu­re e‑Book je­doch ist nicht mei­nes, darf al­so auch nicht wei­ter­ver­kauft wer­den. Güns­ti­ger er­hält man die Din­ger trotz­dem nie. Nir­gends – der Buch­preis­bin­dung sei Dank! Zu­dem muss ich mich für di­gi­ta­le Lehr­wer­ke re­gel­mä­ßig mit ei­ge­nen Ac­counts auf den Ver­lags­sei­ten an­mel­den: für das La­tein­buch bei C.C.Buchner, für das Ge­schichts­buch bei Klett, für Po­li­tik bei Schö­ningh, für Ma­the bei… – denn Schul­li­zen­zen, die zen­tral auf ei­nem Schul­rech­ner auf­ge­spielt und aus­ge­ge­ben wer­den, sind mir in Deutsch­land noch nicht untergekommen.

Aber selbst wenn es sol­che zen­tral greif­ba­ren di­gi­ta­len Schul­bü­cher gä­be: Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler könn­ten auf sie schwer­lich zu­grei­fen, weil es – ers­tens – kein flä­chen­de­cken­des WLAN in den meis­ten Schu­len gibt, und selbst wenn es das in Schu­len gibt, ist es – zwei­tens – kaum so sta­bil und schnell, den gleich­zei­ti­gen Zu­griff von bis zu tau­send Ju­gend­li­chen stand­zu­hal­ten, und selbst wenn so­gar das der Fall wä­re, ist – drit­tens – die recht­li­che Fra­ge un­ge­klärt, was mit Haf­tungs­fra­gen bei über die­sen Zu­gang be­gan­ge­nen Rechts­ver­stö­ßen wä­re. Folg­lich ha­ben deut­sche Schul­kin­der nur ei­nen Zu­gang zum In­ter­net: Ih­re ei­ge­nen mo­bi­len Da­ten­pa­ke­te in Han­dys, die auf dem Schul­ge­län­de un­ter­sagt sind. – Mo­men­tan spielt das je­doch kei­ne Rol­le, da al­le zu­hau­se sit­zen. Dort ha­ben sie hof­fent­lich ih­re Bü­cher mit hin­ge­nom­men. Denn ein­scan­nen darf ich die zu wie­der­ho­len­den Buch­sei­ten nicht… das Co­py­right der Ver­la­ge, Sie verstehen…

Set­zen Sie al­so bit­te kei­ne gro­ßen Hoff­nun­gen in e‑Learning zu Zei­ten von Co­ro­na. Aber set­zen wir al­le bit­te Hoff­nung dar­in, dass Schü­ler, El­tern, Leh­rer, dass Bund, Län­der, Ge­mein­den, dass Schul­buch­ver­la­ge und Rech­te­inha­ber die­se Pha­se als Weck­ruf be­grei­fen, Din­ge künf­tig mög­li­cher zu machen.