Ein Plädoyer fürs Scheitern

Ich ge­be zu, ich ha­be die­sen Bei­trag schon lan­ge schrei­ben wol­len. Aber die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den, braucht viel Fin­ger­spit­zen­ge­fühl – schließ­lich soll es kei­ne »da ha­ben Sie einen«-Wutrede im Sti­le von Chris­ti­an Lind­ners Auf­tritt wer­den, ob­wohl sie den­sel­ben, tat­säch­lich ir­gend­wie un­an­ge­neh­men In­halt hat: das Scheitern.

Ei­gent­lich scheint al­les gar nicht so schlimm: Aus Feh­lern lernt man, weiß der Volks­mund. »七転び八起き« ge­hört zu den be­lieb­tes­ten Sprü­chen aus Ja­pan und läuft ei­nem som­mers mehr­fach als güns­ti­ges Tat­too vor die Au­gen: sie­ben­mal fal­len, acht­mal auf­ste­hen¹. Und selbst in der Bi­bel heißt es, »der Ge­rech­te fällt sie­ben­mal und steht wie­der auf« (Sprü­che 24,16). Heu­te aber? Al­les Ma­ku­la­tur: »Das kann man sich doch gar nicht mehr er­lau­ben«, ist ein häu­fi­ger Satz aus El­tern­mund, wenn es um ein Schei­tern ih­rer Spröss­lin­ge geht. Die ge­fühl­te Rea­li­tät sieht so aus, dass ei­ne Vier in Ma­the­ma­tik be­reits den Schul­ver­sa­ger pro­phe­zeit, ei­ne Fünf im Vo­ka­bel­test ist ident mit dem Ab­stieg in die Haupt­schul­li­ga. Des­we­gen ver­brin­gen El­tern ih­re Wo­chen­en­den mit den Re­fe­ra­ten und Prä­sen­ta­tio­nen ih­rer Söh­ne und Töch­ter. »Was mei­nen Sie denn, wie vie­le Näch­te schon für so et­was drauf­ge­gan­gen sind?«, so die vor­wurfs­vol­le Fra­ge ei­nes Aka­de­mi­ker­va­ters an mich. Ge­gen­fra­ge, lie­be El­tern: Was mei­nen Sie, wie pein­lich es für al­le An­we­sen­den ist, wenn ein 14-Jäh­ri­ger wäh­rend sei­nes Re­fe­ra­tes über For­mu­lie­run­gen auf sei­ner Kar­tei­kar­te stol­pert, die sehr of­fen­sicht­lich zu kom­pli­ziert für die­ses Al­ter sind?

Ich weiß: Die meis­ten El­tern wol­len das Bes­te für ihr Kind. Sie wol­len es be­hü­ten und be­schüt­zen vor ei­ner Welt, die im­mer kom­pli­zier­ter und im­mer un­si­che­rer zu wer­den scheint. Aber ge­ra­de deswegen:

  • Wenn Ihr Kind nie hin­fal­len darf, wie soll es ler­nen, wie­der aufzustehen?
  • Wenn Ihr Kind nie Gren­zen er­fah­ren hat, wie soll es sei­ne Gren­zen kennen?
  • Wenn Ihr Kind nie ge­schei­tert ist, wo­her soll es er­fah­ren, dass Sie als El­tern und wir als Leh­rer da­zu da sind, ihm auf­zu­hel­fen? Wie soll es je das Grund­ver­trau­en in sich und die Welt ler­nen, wel­ches sich in vier ein­fa­chen Wor­ten zu­sam­men­fas­sen lässt: »Das Le­ben geht weiter!«?

Ich be­haup­te: Ge­ra­de weil die Welt sich tat­säch­lich im­mer schnel­ler dreht, ge­ra­de weil Le­bens­läu­fe à la »Schu­le, Stu­di­um, im­mer der­sel­be Job bei dem­sel­ben Ar­beit­ge­ber, Ren­te« zu­neh­mend un­mög­lich wer­den, ge­ra­de weil nie­mand von uns sa­gen kann, mit wel­chen Her­aus­for­de­run­gen die jet­zi­ge Kin­der­ge­ne­ra­ti­on ein­mal wird um­ge­hen müs­sen, ist es un­se­re er­wach­se­ne Pflicht, mit die­sen Kin­dern ei­ne so ge­nann­te »Kul­tur des Schei­terns« ein­zu­üben. Wir müs­sen den uns an­ver­trau­ten Kin­dern und Ju­gend­li­chen ver­deut­li­chen: Klar ist Er­folg schö­ner – aber Schei­tern ist Teil je­des Le­bens, ist kein Stig­ma, ist kein Ma­kel. Heu­te kommt die­ses Nach­den­ken spät: An Uni­ver­si­tä­ten, bei Grün­dern. Zu spät, denn ei­ne sol­che Kul­tur lässt sich mit ganz we­ni­gen Grund­sät­zen schü­ler­ge­recht umreißen:

  • Wenn du hin­fällst, steh wie­der auf.
  • Wenn je­mand an­de­res hin­fällt, hilf ihm wie­der auf, an­statt ihn auszulachen.
  • Wenn du an dei­ne Gren­zen stößt, such dir Hil­fe oder ei­nen an­de­ren Weg.
  • Wenn je­mand an­de­res dich um Hil­fe bit­tet, hilf ihm.

Und da­bei ganz wich­tig: Dein Wert als Mensch be­misst sich nicht im Ab­itur, im Mas­ter, im Di­plom, in der Ver­tei­di­gung ei­ner Dis­ser­ta­ti­on, ist kei­ne Fra­ge des Er­rei­chens ge­wis­ser Kar­rie­re­stu­fen in ei­nem be­stimm­ten Al­ter, hängt nicht von der Hö­he dei­nes Ge­halts­schecks ab – im Grund­ge­setz steht schließ­lich auch nicht, dass nur die Wür­de des Aka­de­mi­kers un­an­tast­bar sei.

Na­tür­lich ge­hört da­zu um­ge­kehrt ei­ne Kul­tur der Ein­sicht, dass nicht je­der ein Ab­itur, ei­nen Mas­ter… (s.o.) schaf­fen kann – aber eben auch über­haupt nicht muss. Dass es näm­lich für vie­le Kin­der bes­ser ist, ein zu­frie­de­ner Sit­zen­blei­ber oder ein er­füll­ter Re­al­schü­ler zu sein, als ein ge­quäl­ter Gym­na­si­ast. Schließ­lich soll­te es uns um die Le­bens­qua­li­tät je­des ein­zel­nen ge­hen, nicht um ma­xi­ma­len Druck, ma­xi­ma­le Über­for­de­rung oder, als po­li­ti­sche Re­ak­ti­on, ei­ne vor­ge­täusch­te ma­xi­ma­le Stu­dier­fä­hig­keit, in­dem zen­tra­le Ab­schluss­prü­fun­gen im Ni­veau sin­ken.

¹) War­um man ein­mal auf­ste­hen soll, oh­ne vor­her ge­fal­len zu sein, mö­ge man bit­te in ja­pa­ni­schen Freun­des­krei­sen er­fra­gen; mir hat sich das noch nie er­schlos­sen – im Ge­gen­satz zur Not­wen­dig­keit, sich nach je­dem Hin­fal­len wie­der aufzurappeln.