Ein Lob der Zumutung

Pi­sa-Schock 2.0 – so könn­te man die Schlag­zei­len der deut­schen Me­di­en in die­ser Wo­che knapp zu­sam­men­fas­sen; deut­sche Schü­le­rin­nen und Schü­ler schnei­den im Pro­gram­me for In­ter­na­tio­nal Stu­dent As­sess­ment (al­so et­wa: »Pro­gramm zur in­ter­na­tio­na­len Schü­ler­ein­schät­zung«) schlecht ab, oft­mals so­gar schlech­ter als beim ers­ten Pi­sa-Schock im Jahr 2000. Es ist dies je­doch ei­ne Nach­rich­ten­la­ge, die kei­ne Leh­re­rin und kei­nen Leh­rer über­ra­schen konnte.

Fai­rer­wei­se muss man fest­hal­ten: Die heu­ti­ge Schü­ler­ge­nera­ti­on ist si­cher­lich nicht düm­mer oder un­fä­hi­ger als mei­ne Ge­ne­ra­ti­on es war oder die Ge­ne­ra­ti­on mei­ner El­tern. Trotz­dem be­ob­ach­te ich in mei­nem Schul­all­tag seit län­ge­rer Zeit schon fol­gen­de Phänomene:

    • Es dau­ert bis min­des­tens Klas­se 7, Klas­se 8, be­vor al­le SuS (= Schü­le­rin­nen und Schü­ler) das Prin­zip ver­in­ner­licht ha­ben, dass sie auch mal war­ten müs­sen, weil ich mich un­mög­lich um ein Dut­zend Kin­der gleich­zei­tig küm­mern kann.
    • Selbst in der gym­na­sia­len Ober­stu­fe schaf­fen es nicht al­le SuS, ei­nen nor­ma­len Schul­buch­text feh­ler­frei vorzulesen.
    • Den Un­ter­schied zwi­schen 1840 als Jahr (al­so »Acht­zehn­hun­dert­vier­zig«) und 1840 als Zahl (al­so »Ein­tau­send­acht­hun­der­vier­zig«) krie­gen vie­le beim Vor­le­sen nicht differenziert.
    • Noch in Vor­abi-Klau­su­ren strei­che ich For­men wie »er be­tre­tet«, »sie ruf­te« oder »es steh­te« an, wäh­rend sich beim Le­sen ganz sach­te mei­ne Ze­hen­nä­gel aufrollen.
    • Die in deut­schen Tex­ten nicht ge­ra­de sel­te­ne Kom­bi­na­ti­on », dass« wird häu­fi­ger falsch denn rich­tig ge­schrie­ben; ak­tu­ell tren­det »das ‚«!
    • Groß- und Klein­schrei­bung ist völ­lig op­tio­nal ge­wor­den, ähn­lich wie Punk­te am En­de von Sät­zen (der nächs­te steht schließ­lich nor­ma­ler­wei­se farb­lich ab­ge­grenzt in ei­ner an­de­ren Chat­bubble).
    • Les­ba­re – ge­schwei­ge denn: sau­be­re – Hand­schrif­ten wer­den ten­den­zi­ell sel­te­ner, statt­des­sen tan­zen deut­li­che An­fangs­buch­sta­ben, ge­folgt von Herz­rhyth­mus­li­ni­en quer über li­nier­te Blätter.

…und die Ver­käu­fe­rin, die nicht be­greift, war­um man ihr bei 18,40 € Ge­samt­sum­me ei­nen Zwan­zi­ger und zwei 20-Cent-Stü­cke in die Hand drückt, ist uns wahr­schein­lich al­len schon be­geg­net. Die hart­nä­cki­ge­ren Ex­em­pla­re die­ser Gat­tung ge­ben uns erst die bei­den Mün­zen zu­rück, be­vor sie dann noch ein­mal 1,60 € Wech­sel­geld auf den Schein zusammenkramen.

Noch ein­mal in al­ler Deut­lich­keit: Das ist nur in sehr be­grenz­tem Um­fang die Ver­ant­wort­lich­keit der ge­tes­te­ten Kin­der. Es sind sys­te­mi­sche Feh­ler, die in der Schu­le und im El­tern­haus pas­sie­ren. Feh­ler mei­ner Ge­ne­ra­ti­on, denn auch mir wur­de im Re­fe­ren­da­ri­at (2008–2010) Fol­gen­des ein­ge­trich­tert: »Wenn Kin­der nicht mit­ma­chen oder schlech­te Er­geb­nis­se er­rei­chen, dann war mein Un­ter­richt nicht mo­ti­vie­rend ge­nug!« – Und un­ter sol­cher­lei päd­ago­gi­scher Prä­mis­se wur­de eben an vie­len Schu­len und in vie­len recht­li­chen Vor­ga­ben sehr kon­se­quent al­les re­du­ziert, was Kin­der nicht mo­ti­viert: Still­sit­zen ist nicht mo­ti­vie­rend. Sich kon­zen­trie­ren ist nicht mo­ti­vie­rend. Län­ge­re Tex­te le­sen und ver­ste­hen ist nicht mo­ti­vie­rend. Mit Fül­ler schrei­ben ist nicht mo­ti­vie­rend. Schön­schrift trai­nie­ren ist nicht mo­ti­vie­rend. Recht­schrei­bung kor­ri­gie­ren ist nicht mo­ti­vie­rend. Das klei­ne Ein­mal­eins aus­wen­dig ler­nen ist nicht mo­ti­vie­rend. – Am En­de kön­nen vie­le Kin­der und Ju­gend­li­che dann eben vie­les nicht mehr so gut, aber sie sind da­bei un­ge­heu­er motiviert!

Klar kann man mich an­hand der aus­ge­wähl­ten Bei­spie­le als re­ak­tio­nä­ren al­ten Kna­cker be­schimp­fen, al­lein: Es ist wis­sen­schaft­lich recht klar er­wie­sen, dass un­ser Ge­dächt­nis sich Din­ge bes­ser merkt, wenn wir per Hand schrei­ben. Ein Fül­ler muss in ei­ner be­stimm­ten Po­si­ti­on ge­hal­ten wer­den, die Auf- und Ab­schwün­ge müs­sen funk­tio­nie­ren, da­mit Tin­te fließt – was dann ins Mus­kel­ge­dächt­nis über­geht und lang­fris­tig für ei­ne bes­ser le­ser­li­che Schrift sorgt. Schlech­te Recht­schreib­leis­tun­gen kön­nen Kar­rie­re und Zu­kunft be­ein­träch­ti­gen – oder für den nächs­ten Pi­sa-Schock sor­gen, denn die Ma­the-Auf­ga­ben im Ver­gleichs­test sind oft ge­nug Text­auf­ga­ben! Und dass das klei­ne Ein­mal­eins nicht mehr wich­tig ist, steht so­gar im Kern­cur­ri­cu­lum Ma­the­ma­tik für nie­der­säch­si­sche Grund­schu­len – da wird am En­de von Klas­se 2 nur noch er­war­tet, dass SuS die »Kern­auf­ga­ben« der Mul­ti­pli­ka­ti­on ken­nen. Was das ist? Das 1x1, das 1x2, das 1x5 und das 1x10.

Und auf die­se Grund­pro­ble­ma­tik mei­ner Zunft pa­cken wir jetzt ei­ne Pan­de­mie mit Schul­schlie­ßun­gen und oft sub­op­ti­ma­lem Er­satz­un­ter­richt, die aus Geld- und Leh­rer­man­gel feh­len­de Nach­mit­tags­be­treu­ung, zwei be­ruf­lich ein­ge­spann­te El­tern­tei­le und de­ren tech­ni­sche Mög­lich­kei­ten, ein quen­geln­des Kind vor dem Fern­se­her oder Ta­blet zu »par­ken«, die nie erst ein­ge­for­der­te und dann ge­för­der­te An­stren­gung, ein Buch zu le­sen – und, voi­là, der Pi­sa-Schock 2.0 ist da.

Ob sich das nun end­lich än­dern wird? Ich pro­phe­zeie: Nein. In den nächs­ten Wo­chen wer­den wir die ein­ge­üb­ten und zu­ver­läs­sig wie­der­hol­ten Ab­läu­fe bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Bil­dungs­de­bat­ten se­hen: Ex­per­ten, die schon im­mer für die Ge­samt­schu­le wa­ren, wer­den uns die Ge­samt­schu­le als Lö­sung ver­kau­fen. Ex­per­ten, die schon im­mer für ver­pflich­ten­de Vor­schul­jah­re wa­ren, wer­den uns ver­pflich­ten­de Vor­schul­jah­re als Lö­sung ver­kau­fen. Ex­per­ten, die schon im­mer für den Ganz­tag, mehr Ver­gleichs­ar­bei­ten, mehr Um­welt­er­zie­hung, mehr MINT oder mehr Ku­schel­so­fas in Klas­sen­räu­men wa­ren, wer­den uns… – Sie ah­nen es. Und mehr Geld wer­den auch al­le for­dern. Wet­ten, dass?